Januar 31

Neue Abschnitte

In diesem Bereich könnt ihr immer mal wieder einen neuen Abschnitt aus dem Buch lesen, der in dem bereits veröffentlichtem Manuskript noch nachträglich Platz findet.

Die Szene „Anni privat“ findet ihr weiter unten.

Sebastians Neugier

Sebastian Altfort steigt gerade aus der S-Bahn am Jungfernstieg. Sonst hat er immer den Mercedes genommen und in der Tiefgarage direkt neben der Hochschule geparkt. Die Nacht hat er zwar daheim verbringen dürfen, aber dennoch kaum schlafen können. Daher hat er es für sicherer gehalten, das Fahren dem Lokführer der Bahn zu überlassen. Ein paar Mal ist er bereits mit den Öffentlichen zum Unterricht gefahren. Meistens dann, wenn er am Vorabend noch lange auf dem Kiez unterwegs gewesen ist. Dabei hat er vor allem eins gelernt, nämlich Kopfhörer aufzusetzen. All die störenden Geräusche morgens, die unentwegten Gespräche, das Quietschen der Schienen. Er will davon nichts hören. Besonders nicht nach einer kurzen Nacht. Egal, was dafür der Anlass gewesen ist.
Sebastian kauft sich bei einem kleinen Bäcker auf dem Weg einen doppelten Espresso Macchiato, ein belegtes Brötchen mit Schinken und Ei und einen abgepackten Obstsalat. Das sollte ihn durch den Tag bringen, denkt er sich. Da er nicht viel geschlafen hat, ist er einfach irgendwann zur Bahn gegangen und hat sich auf den Weg gemacht. Nun ist er viel zu früh in der Innenstadt. Daher entscheidet er sich, nicht in Richtung des Thalia-Theaters zu gehen, sondern einen kleinen Schwenker zur Binnenalster zu machen. Trotz der kalten Temperaturen setzt er sich für eine kurze Zeit auf eine Parkbank direkt am Wasser und nimmt erst einmal sein eben gekauftes Frühstück zu sich.
Vor ihm ergibt sich ein faszinierender Anblick, wie die aufsteigende Morgensonne die Fassade des gegenüberliegenden Hotel Vier Jahreszeiten erleuchtet und sich auf dem Eis auf der Alster spiegelt. Er kann sich gar nicht richtig daran erinnern, wann die Binnenalster das letzte Mal zugefroren gewesen ist. So richtig kann er dieses Bild vor ihm aber nicht genießen. Seine Gedanken schießen immer wieder zu dem, was er vor zwei Tagen in der Nacht gesehen hat. Der alte Mann ist von hinten angegriffen und dann entführt worden. Womöglich ist der Professor auch bereits tot. Das zumindest sagt ihm seine Intuition.
Sebastian Altfort interessiert sich in seiner Freizeit sehr für Geschichten rund um Serienmörder und Amokläufer. Er findet die Thematik faszinierend, wie sich in den Köpfen der Täter ein ganz anderes Weltbild erstellt hat. Weswegen er auch fast Psychologie studiert hätte. Aber seine Eltern haben verlangt, dass er etwas mit mehr Zukunft und Nachhaltigkeit studiert. Als würden die Menschen plötzlich aufhören würden, Psychologen zu benötigen. Das Gegenteil ist eigentlich der Fall. Bei dem heutigen Erfolgsdruck in nahezu jeder Branche und den schier endlosen Stress, der mittlerweile bereits in der Grundschule beginnt, ist eher ein Fachkräftemangel auch in diesem Bereich unausweichlich.
Um es anders zu formulieren, haben seine Eltern gewollt, dass er etwas studiert, wobei sie ihm mit ihren Beziehungen helfen können und er am Ende einen Haufen Geld verdient, ohne sich groß die Hände dreckig zu machen. Er hasst ihr Gerede von „Vitamin B“ und wo sie ihm nicht alles ein Praktikum mit guter Aussicht auf Übernahme verschaffen könnten. Ohne Mordgedanken gegenüber seinen Eltern zu hegen, hat ihm die Welt der Serienmörder doch immer eine Art Ausflucht geboten. Er hat sich unzählige Dokumentationen angeschaut und so gut wie jeden Bericht aus jeglichen Fachmagazinen gelesen. Deswegen lässt ihn das Gefühl nicht los, dass jede Hilfe für den Professor zu spät kommen wird.
Nachdem er sein Brötchen aufgegessen und seinen Espresso ausgetrunken hat, steht der Student von der Bank auf und macht sich in Richtung Gertrudenplatz. Während er durch den tiefen Schnee wandert, kommt ihm der Gedanke, was für ein großer Zufall es eigentlich gewesen ist, dass er die Entführung gesehen hat. Genau zu der Zeit hat es in den letzten Tagen nicht geschneit und der Mond hat sogar direkt in die Fensterwand geleuchtet. Sonst hat es bis vor wenigen Stunden fast tagelang durchgeschneit. Selbst der Straßenräumdienst ist kaum hintergekommen. In den kleinen Seitenstraßen am Balindamm und am Jungfernstieg liegt der Schnee immer noch wie eine dicke Schicht auf der Straße und ist lediglich platt gefahren von den Autos.
Auf dem Weg zur Hochschule kommt Sebastian Altfort an dem Gebäude vorbei, in dem er die Tat beobachtet hat. Er bleibt an der Ecke Gertruden- und Ferdinandstraße stehen und schaut hinauf zu dem Büro. Dabei lässt ihn das Gefühl nicht los, dass irgendwas gravierendes übersehen worden ist. Irgendwas stört ihn an der Szene, die er gerade vor sich hat. Auch wenn er nun von der anderen Seite aus auf den Tatort blickt. Die Gertrudenstraße ist er die letzten Tage immer wieder entlang gegangen, um sich etwas zu essen zu holen. Und irgendwas ist jetzt anders.
Er schaut sich aufmerksam um. An der Seite über dem asiatischen Restaurant ist ein Baugerüst angebracht, das seit Wochen nicht benutzt wurde. Die Arbeit wäre auch viel zu gefährlich auf dem vereisten und verschneiten Gerüst. Aber er erinnert sich, dass dennoch die ganze Zeit ein Transporter der Baufirma direkt daneben geparkt hat. Dieser ist nun aber verschwunden und dort, wo er stand, ist ein freier Fleck auf dem Kopfsteinpflaster. Der Transporter hat dort vielleicht sogar schon gestanden, bevor es zu schnein angefangen hat vor zwei Wochen. Aber warum sollte jemand den Transporter ausgerechnet jetzt wegfahren, wo die Straßen doch komplett zu sind? Dieser Gedanke lässt Sebastian Altfort nicht los. Er notiert sich den Namen der Baufirma und geht hinüber zu dem Gerüst. Direkt dahinter befindet sich eine graue, unscheinbare Tür mit der Aufschrift: „Unbefugter Zutritt verboten – Lebensgefahr.“ Die Tür wirkt fast schon deplatziert in dieser Gegend. Aber irgendetwas muss dahinterstecken, denkt er sich. In der unteren Ecke entdeckt er einen weiteren, viel kleineren Aufkleber, auf dem eine Elektronikfirma notiert ist. „Klimaservice Schröder,“ steht dort geschrieben. Auch das schreibt sich Sebastian in sein Smartphone und beeilt sich anschließend, in die Hochschule zu kommen und mit seinen eigenen Recherchen zu beginnen.

Anni privat

„Du siehst echt mitgenommen aus, Anni.“ Sie hebt ihren Kopf, als sie die Bemerkung ihrer Mitbewohnerin vernimmt. Ann-Kathrin sitzt am Frühstückstisch mit einer Tasse Tee vor sich und einem halb aufgegessenen Marmeladenbrötchen. So richtig ist ihr Hunger nach der Erkältung noch nicht wieder gekommen. Und die Möglichkeit, dass ihr Professor entführt worden ist, hat ihr letzte Nacht auch keinen erholsamen Schlaf gebracht. Zudem hat sie noch mit auf das Polizeirevier gemusst, um ihre Aussage zu unterschreiben. Daher ist sie gestern auch später nach Hause gekommen, als sie eigentlich beabsichtigt gehabt hat. Die verlorene Zeit an ihrer Arbeit hat sie dann noch wieder herausgearbeitet bis in die Nacht.
„Es ist momentan echt alles anstrengend und stressig, weißt du?“ Fast schon resignierend antwortet sie ihrer Mitbewohnerin Stella. Von dem möglichen Verbrechen hat Ann-Kathrin ihr nichts erzählt. Noch hat sie die Hoffnung nicht aufgegeben, dass es sich doch um einen unglücklichen Zufall handelt und der Herr Berthold dann doch wieder auftaucht. Sonst erzählt sie Stella relativ viel aus ihrem Leben. Wenn es da denn etwas Nennenswertes gibt. Da Ann-Kathrin sich selbst eher als langweilig empfindet und nicht auf Partys oder so etwas geht, hat sie nicht das Gefühl, dass sie besondere Dinge erlebt. Stella hingegen erzählt immer wieder von ihren Dates, was sie mit ihren Freundinnen unternommen hat oder was in den sozialen Medien so vor sich geht.
Obwohl die beiden sich wie Tag und Nacht in ihren Persönlichkeiten unterscheiden, versteht sich Ann-Kathrin sehr gut mit Stella. So wie eine Art Yin und Yang. Und sie findet es auch immer wieder unterhaltsam, von den Erlebnissen ihrer Mitbewohnerin zu hören. Es lässt sie den Stress rund um ihre Abschlussarbeit zumindest für die Dauer des Frühstücks vergessen. Viel häufiger sehen sie sich momentan auch gar nicht. Ihr eigentliches Zuhause ist momentan die Staatsbibliothek, wo sie auch heute wieder hinfahren wird.
„Du solltest dir vielleicht wirklich mal eine richtige Auszeit gönnen, Anni. Und nicht nur im Bett bleiben, Tee schlürfen und trotzdem den ganzen Tag an deiner Arbeit schreiben. Du brauchst Ruhe. Schau ein paar Serien, schlaf‘ dich aus und iss vernünftig. Dann hast du auch wieder mehr Kraft für den Endspurt bei deiner Arbeit.“ Nickend nimmt sie die Worte ihrer Freundin hin und starrt dabei in die Teetasse. Ganz leicht erkennt sie ihr Spiegelbild auf der Oberfläche der Flüssigkeit und sieht ihre dunklen Augenringe. Sie kneift ihre Augen fest zusammen und nimmt einen Schluck aus der Tasse. Anschließend beißt sie noch einmal unmotiviert in ihr Brötchen.
„Du hast ja recht, Stella. Aber du weißt, dass ich das nicht kann. Ich hab‘ noch eine ganze Menge Arbeit vor mir und kann mir daher eigentlich gar keine Auszeit leisten.“ Wie ein schüchternes Kind schaut Ann-Kathrin während ihrer Rechtfertigung auf ihren Teller und schiebt das Brötchen lieblos von einem Rand zum anderen. Da sie nun zum Gesprächsthema am Frühstückstisch geworden ist, kann sie ihre Gedanken nicht von ihrer Arbeit und von dem Professor abwenden. Pausenlos überlegt sie, auf was für eine Entdeckung sie gestoßen sein könnten. Und was für Konsequenzen das nun vielleicht für den Professor gehabt haben könnte.
In ihrem Hals bildet sich ein dicker Kloß. Sie nimmt rasch einen weiteren Schluck des Tees, als könnte sie diesen damit wegspülen. „Aber deinen Kaffee trinkst du heute doch mit Alex oder? Das hast du ihm und mir versprochen, Liebes.“ Ann-Kathrins Augen werden ganz groß bei der Frage ihrer Mitbewohnerin. Sie merkt, wie ihre Wangen leicht erröten und ihr Herz etwas zu rasen beginnt. Vor einer Weile hat sie sich von Stella dazu überreden lassen, sich eine Dating-App auf ihr Smartphone zu laden. Damit sie auch mal etwas erlebt. Aber sie hatte von Anfang an klar gestellt, dass sie niemanden anschreiben würde und nur die seriösen Kontaktaufnahmen beantwortet. Neben unzähligen, peinlichen Anmachsprüchen und gar direkten Anfragen, ob sie Bock zu ficken hätte von diversen Möchtegern-Machos und Sunnyboys, gab es lediglich eine einzige, ernsthafte Anfrage. Eigentlich hat sie die App schon wieder löschen wollen, kurz bevor Alex ihr geschrieben und nach ihrer Lieblingsfreiheitskämpferin im Mittelalter gefragt hat.
Es stellte sich heraus, dass er ebenfalls Geschichte studiert, aber an der Universität in Lübeck. Ann-Kathrin hat ihm erzählt, dass sie momentan ihre Abschlussarbeit über Schätze des Zweiten Weltkriegs schreibt und daher auch nur wenig Freizeit hat. Sie beide haben sich darauf geeinigt, dass sie immer morgens beim Frühstück etwas chatten und sonst nicht. Sie war nicht Hals über Kopf in den Jungen verliebt, aber sie mag es, mit jemanden zu reden oder vielmehr zu schreiben, der die gleichen Interessen hat wie sie und auch verständnisvoll wegen ihrer Situation ist. Und er sieht zudem noch recht gut aus, was sie so von seinen Bildern beurteilen kann. Und heute wollen sie sich das erste Mal in der Realität treffen.
Alex hat erzählt, dass er zum Flughafen in Hamburg muss, weil er seine Familie in der Nähe von München besuchen fliegt. Er hat vorgeschlagen, dass sie sich ja vorher auf einen Kaffee treffen könnten. Ann-Kathrin hat erst immer wieder abgelehnt wegen ihrer Arbeit, aber Stella hat sie dann doch überreden können, wenigstens für eine halbe Stunde zuzusagen. Und er müsste zur Staatsbibliothek kommen, da gibt es immerhin auch ein Café. Dann würde sie nicht so viel Zeit zum Schreiben verlieren.
„Oh Gott, das hab ich in all der Aufregung ganz vergessen!“ Fast schon entsetzt springt Ann-Kathrin von ihrem Stuhl auf und rennt in ihr Zimmer. Obwohl sie das Treffen anfangs gar nicht gewollt hat, ist ihre Freude darauf von Tag zu Tag dann doch gestiegen. Vielleicht hat sie sich doch ein klein bisschen in den Kerl verschossen? „Was würdest du bloß ohne mich machen, Mädel?“ Hört sie ihre Freundin aus der gemeinsamen Wohnküche rufen. Ann-Kathrin ist gerade dabei, ihren Kleiderschrank zu durchwühlen, auf der Suche nach einer bestimmten Bluse, die sie auch auf dem Profilbild für die App anhat. Sie hat Alex versprochen, das gleiche anzuziehen, damit er sie leichter erkennen kann. Auch wenn die rote Farbe für sie etwas untypisch ist. Aber auch Stella hat gemeint, dass ihr das Oberteil sehr gut steht und sie durchaus mal etwas Farbe wagen sollte.
Nachdem sie sich umgezogen hat, räumt Ann-Kathrin noch ihr Geschirr in die Abwäsche und verabschiedet sich von ihrer Freundin. „Wie du siehst, werde ich zu dem Treffen gehen, ja. Versprochen ist versprochen,“ versucht sie sich zu rechtfertigen. Als gäbe es keinen anderen Grund, warum sie zu dem Treffen geht. Sie hat bereits die Haustür geöffnet und winkt Stella noch einmal kurz, als diese ihr nur abschließend hinterherruft: „Schnapp ihn dir, Süße.“